Kosmischer Waldspaziergang
Nicht nur um für einen gesunden Schlaf und ausreichend Bewegung zu sorgen, sondern vor allem, weil ich die bunten Farben des Herbstes so liebe, habe ich mir in den letzten Wochen angewöhnt, so oft es geht in der Natur spazieren zu gehen. Eine meiner Lieblingsstrecken führt mich dabei an einen Platz am Waldrand mit Blick auf Pferdekoppeln und Felder soweit das Auge reicht. So auch gestern, an einem außergewöhnlich schönen, sonnigen Samstag im November.
Währenddessen ich meinen Blick in die Ferne schweifen lasse, erinnere ich mich an ein Interview mit Shirzad Chamine, Autor des New York Times Bestsellers „Positive Intelligence“. In seinem Buch beschreibt Shirzad die in uns aktiven, unser Glück und unsere Beziehungen entweder sabotierenden oder fördernden Kräfte und schlägt Mini-Achtsamkeitsübungen für den Alltag zur Stärkung unserer Selbstwahrnehmungsfähigkeit vor. Insoweit alter Wein in neuen Schläuchen, aber das Interview mit Shirzad ist mir in guter und lebhafter Erinnerung geblieben, zumal die eine oder andere Achtsamkeitsübung „zwischendurch“ sicherlich nicht schaden kann.
Warum also im „Hier und Jetzt“ nicht ein bisschen üben, denke ich. Ich verlangsame also meinen Schritt und schließe die Augen, um gleich hoffentlich aufmerksamer als sonst verfolgen zu können, wie ich Zentimeter für Zentimeter einen Fuß vor den anderen setze. So detailliert wie möglich möchte ich der Empfindung nachgehen, die von den Druckrezeptoren meiner Füße in Windeseile an mein Gehirn kommunizieren werden, sobald ich meine Ferse langsam auf den weichen Waldboden aufsetze.
Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Krankenhaus-Patientin, die in der neurologischen Abteilung den Strichgang und den Blindgang gleichzeitig vollziehen soll. Das mit der Ferse geht ja noch, aber meine Fußsohle ist dank meines sperrigen Schuhwerkes nicht ganz freiwillig bereit, sich schrittkonform und flüssig abzurollen. Ich verliere etwas die Balance und öffne die Augen. Ein kleiner spitzer Stein ganz vorne unter meinem rechten großen Zeh macht sich gerade noch rechtzeitig bemerkbar, bevor meine Aufmerksamkeit eingefangen wird von dem leuchtenden Braungelb der Wind verwehten Blätter des mächtigen Buchenbaumes über mir.
Der darüber liegende, kompromisslos blaue Himmel scheint zum Greifen nah und immer wieder blinzeln Sonnenstrahlen verspielt und selbstbewusst zwischen den sich wiegenden Ästen und Zweigen hervor. Ich höre das ganz nahe und vertraute Rauschen des Waldes, es scheint sich schier über mich zu ergießen wie ein wohliger Sommerregen. Ich sehe, wie ein kleines verirrtes Blatt etwas unentschieden vor mir zu Boden auf die feuchte und von Mountainbikes zerfurchte Erde fällt. Es fühlt sich schön warm an auf meiner Haut und es riecht ziemlich nach Frühling, obwohl wir heute den 14. November haben.
14. November. Frühling. Herbst.
Damit ist es erstmal vorbei mit der lehrbuchmäßigen Achtsamkeit. Mein Gehirn ist augenblicklich damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie das nochmal war mit der Erde, der Sonne und den Jahreszeiten. Die Sache mit den Asteroiden, die unsere Erde vor 4,5 Milliarden Jahren getroffen und aus ihren geraden Angeln in die ekliptische Schieflage gehängt haben sollen, hat mich ja schon immer fasziniert irgendwie. Dann erinnere ich mich an mein Erstaunen als Kind über die Erkenntnis, dass die Menschen auf der Südhalbkugel, anders als ich geglaubt hatte, gar nicht auf dem Kopf stehen. Offenbar fielen sie auch nicht einfach von der Erde hinunter ins Weltall. Viele Fragezeichen ergaben sich damals, als ich anfing die Welt zu begreifen. Ungelöste Fragen, aufgrund derer ich damals unbedingt Astronautin werden wollte, aber warum auch immer scheint aus diesem Vorhaben nichts geworden zu sein.
Mit Ehrfurcht kommt mir der Gedanke in den Sinn, dass die Erde, so wie auch viele andere Planeten und Sterne, mit einer unhörbar tiefen Eigenfrequenz gerade vor sich hin schwingt und brummt. Und ich stelle mir vor, wie dieser Planet, auf dem ich gerade so Gedanken versonnen umherlaufe als wäre es das Normalste der Welt, mit mehr als 100.000 km/h durch unsere Galaxie um die Sonne rast, sich dabei auch noch um die eigene Achse dreht, und versuche auszumachen, in welche Richtung ich angesichts dieser kosmischen Gemengelage bei einem Vorfahrtsverstoß da draußen wohl purzeln würde. Und warum spüren wir eigentlich nicht den Fahrtwind dieser rekordverdächtigen Rally durch’s All? Ach ja, die Atmosphäre.
Stichwort Atmosphäre. Ich schaue auf den Punkt im Himmel senkrecht über mir und versuche mir vorzustellen, wie etwa hundert Kilometer weiter das Universum beginnt. Troposphäre, Stratosphäre, Mesosphäre… Gab es nicht auch noch eine Ionosphäre? Ionen. Elektronen. Protonen. Im Nu bin ich bei den Atomen und im Periodensystem der Elemente gelandet. Wasserstoff. Sauerstoff. Edelgase. Oh Mann, keine Ahnung wie das alles genau war …
Ich denke etwas wehmütig zurück an meine aus tiefstem Herzen bemühte Chemielehrerin mit dem weißen Labor-Kittel, den grauen Haaren und der zittrigen Stimme. Ich mochte sie sehr. Dann an den jungen freundlichen Typen mit dem blauen Polo-Shirt, der gestern so lebhaft die Grundlagen der Quantenphysik anhand einer Kaffeetasse erklärt hat. Wäre ich ein Quantenteilchen, könnte ich, solange mich niemand beobachtet, gleichzeitig hier im Wald umher laufen und da oben irgendwo auf dem Mond sitzen. Verrückt!
Ach ja, Kaffeetasse. Ich darf gleich nicht vergessen, im Bauerncafé an der Autobahn Kuchen zu kaufen. Am Nachmittag kommt meine Freundin zu Besuch. Wir haben uns seit einer gefühlten Ewigkeit schon nicht gesehen. Und hoffentlich haben sie heute Käse-Mohn, den mag sie immer so gern. Aber Moment mal…
Wie war das jetzt nochmal mit dem Waldboden, der Buche und dem Stein unter meinem rechten großen Zeh? Ich muss schmunzeln und nicke dem älteren Herren zu, der mir gerade entgegen kommt und mir sein freundlichstes Lächeln schenkt. In der Ferne sehe ich ein Reh über die Felder am Waldrand springen. Als Teil dieses unglaublichen Wunders Welt könnte ich in diesem Moment einfach nicht glücklicher sein.
Auch ohne Strichgang und Bestseller.
Sylvia Morgenstern
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